
Es ist jetzt offiziell: ich habe ADHS.
Natürlich habe ich es schon länger geahnt – man begibt sich selten umsonst auf so eine Reise. Aber ein offizielles Ergebnis ist etwas anderes. Seitdem arbeitet vieles in mir. Besonders intensiv beschäftigt mich gerade ein Thema, das in der ADHS-Community immer wieder auftaucht: Masking.
Vielleicht klingt das erstmal so, als könnte man einfach eine Maske an- und ablegen – fast wie bei einer Theateraufführung. Aber so einfach ist es nicht. Masking ist vielschichtiger. Es ist nicht nur Verkleidung, sondern auch Überlebensstrategie, Gewohnheit und manchmal sogar eine Form von Kompetenz.
Was bedeutet Masking eigentlich?
Masking bezeichnet das Verbergen oder Kompensieren von ADHS-Symptomen, die von der Umwelt negativ bewertet werden. Es geht darum, in eine Form zu passen, die als „normal“ gilt. Normal im Sinne von „für die Mehrheit typisch“.
Beispiele gefällig?
- Wer innerlich zappelig ist, versucht still zu sitzen, obwohl die Beine eigentlich rennen wollen.
- Wer ständig Gedanken verliert, legt sich komplizierte Ordnungssysteme zurecht, um den Anschein von Struktur zu wahren.
- Wer schnell impulsiv reagiert, trainiert sich an, den Mund zu halten – selbst wenn es in einem brennt.
Auf den ersten Blick wirkt das praktisch. Schließlich will man nicht ständig anecken. Doch hinter dieser Anpassung steckt ein hoher Preis.
Warum wir maskieren
Masking ist nicht automatisch falsch. Viele von uns lernen schon als Kinder: Wenn du still bist, wirst du gelobt. Wenn du deine Ungeduld kontrollierst, bekommst du Freunde. Wenn du deine chaotische Art überspielst, kommst du im Job weiter.
Kurz gesagt: Masking hilft uns, in einer Welt zu überleben, die nicht für neurodivergente Gehirne gebaut ist.
Für mich persönlich war es jahrelang selbstverständlich, mich zu verstellen. Ich habe mich oft gefragt:
- Bin ich wirklich so laut, wie ich mich innerlich fühle?
- Muss ich mich dauernd entschuldigen, wenn ich wieder zehn Themen auf einmal anspreche?
- Darf ich zeigen, dass ich manchmal an der kleinsten Alltagssituation verzweifle?
Und die Antwort lautete meist: lieber nicht.
Der Preis des Maskings
Das Problem ist: Masking kostet Energie.
Stell dir vor, du trägst den ganzen Tag einen viel zu engen Schuh. Am Anfang denkst du, es geht schon irgendwie. Doch je länger du damit unterwegs bist, desto mehr drückt und schmerzt es. Am Ende kannst du kaum noch auftreten.
So fühlt sich Masking an. Es funktioniert – bis es nicht mehr funktioniert.
Viele ADHSler, vor allem Frauen, berichten davon, dass sie jahrelang so erfolgreich maskiert haben, dass niemand ihre Diagnose in Betracht zog. Sie galten als „angepasst“, „fleißig“, „nett“ – und innerlich kämpften sie mit Erschöpfung, Selbstzweifeln und Überforderung.
Auch ich kenne dieses Gefühl: äußerlich stabil, innerlich im Dauerfeuer.
Aber ist Masking nur schlecht?
Nein. Hier beginnt die spannende Grauzone. Masking hat mir auch Türen geöffnet. Es hat mir geholfen, beruflich erfolgreich zu sein, soziale Beziehungen zu halten und mich in einer Gesellschaft zu bewegen, die klare Erwartungen hat.
Denn seien wir ehrlich: Jeder Mensch maskiert in irgendeiner Form. Wir alle passen uns in bestimmten Situationen an – im Job, bei Familienfeiern oder wenn wir jemandem imponieren wollen. Der Unterschied ist nur: Für Menschen mit ADHS ist Masking oft kein gelegentlicher Kompromiss, sondern eine Dauerstrategie.
Und genau da liegt die Frage:
👉 Wo ist Masking für mich wertvoll – und wo raubt es mir mehr, als es mir bringt?
Ein Schritt Richtung Authentizität
Für mich bedeutet die Diagnose ADHS nicht nur, eine „Schublade“ gefunden zu haben. Sie ist vielmehr eine Einladung, ehrlicher zu mir selbst zu sein.
- Ich darf anerkennen, dass ich manchmal andere Bedürfnisse habe als die Mehrheit.
- Ich darf Grenzen ziehen, wenn mir Masking zu viel wird.
- Und ich darf lernen, zwischen hilfreicher Anpassung und selbstzerstörerischer Verkleidung zu unterscheiden.
Ein Beispiel:
Im Coaching-Gespräch mit Klienten halte ich meine Impulsivität bewusst zurück, weil es dem Prozess dient. Das ist konstruktives Masking.
Aber wenn ich zu Hause stundenlang so tue, als wäre ich nicht erschöpft, nur um „funktionierend“ zu wirken – dann betrüge ich mich selbst.
Die große Frage: Wer bin ich wirklich?
Masking führt unweigerlich zur tieferen Frage: Was bedeutet es, ich selbst zu sein?
Bin ich „echt“, wenn ich all meine Impulse ungefiltert herauslasse? Oder bin ich „echt“, wenn ich die Version von mir lebe, die in der Gesellschaft funktioniert?
Die Wahrheit liegt wahrscheinlich irgendwo dazwischen. Ich bin all das – die Impulsive, die Strukturiert-Getarnte, die Kreative, die Überforderte. Masking ist nicht das Gegenteil von Authentizität. Es ist Teil meiner Geschichte, Teil meines Lernens, Teil meiner Identität.
Fazit: Masking neu bewerten
ADHS-Masking ist weder nur schlecht noch nur gut. Es ist eine Strategie, die uns manchmal schützt – und manchmal ausbrennt. Wichtig ist, bewusst hinzuschauen:
- Wann nutze ich Masking, um mir selbst zu helfen?
- Wann nutze ich es, um anderen zu gefallen – auf meine eigenen Kosten?
- Und wo darf ich lernen, meine Maske Stück für Stück fallen zu lassen?
Am Ende geht es weniger um „Maske ablegen oder nicht“, sondern um Bewusstsein und Wahlfreiheit.
Denn „ich selbst sein“ bedeutet nicht, immer ungebremst alles rauszulassen. Sondern zu wissen: Ich habe die Wahl, wie viel von mir sichtbar wird – und das ist okay.