Daniela ist 42, beruflich erfolgreich – und trotzdem fühlt sie sich oft „anders“. In Meetings hat sie das Gefühl, schneller zu denken als andere, doch wenn sie ihre komplexen Gedankengänge äußert, reagieren ihre Kolleg:innen oft irritiert. Manchmal ist sie überwältigt von Reizen, fühlt sich in sozialen Situationen fehl am Platz oder stellt sich selbst die Frage: „Warum bin ich so?“ Als sie eines Tages über den Begriff „Neurodiversität“ stolpert, beginnt eine Reise, die ihre Selbstwahrnehmung grundlegend verändert.
Was bedeutet „neurodivers“ überhaupt?
Der Begriff „Neurodiversität“ stammt aus der Neurodiversitätsbewegung, die in den 1990er Jahren aufkam. Die zentrale Idee: Es gibt nicht nur eine „richtige“ Art zu denken und zu fühlen, sondern viele verschiedene. Neurodiversität beschreibt also die natürliche Vielfalt menschlicher Gehirne.
Man unterscheidet dabei zwei Gruppen:
- Neurotypische Menschen: Ihr Gehirn funktioniert so, wie es in der Gesellschaft als „normal“ gilt.
- Neurodivergente Menschen: Ihr Gehirn verarbeitet Informationen anders als der Durchschnitt. Dazu gehören oft Menschen mit Autismus, ADHS, Legasthenie oder Dyskalkulie.
Daniela erkennt sich in vielen Beschreibungen wieder. Besonders das Gefühl, in sozialen Interaktionen oft missverstanden zu werden, begleitet sie seit ihrer Jugend. Aber passt Hochbegabung auch in dieses Konzept?
Hochbegabung als Teil der Neurodiversität?
Hochbegabung wird nicht offiziell als neurodivergent eingeordnet – und trotzdem fühlen sich viele Hochbegabte „anders“. Warum? Weil ihr Gehirn tatsächlich anders arbeitet als das eines durchschnittlich begabten Menschen. Hochbegabte haben oft eine außergewöhnlich schnelle und vernetzte Denkweise, können komplexe Zusammenhänge blitzschnell erfassen und sind häufig überdurchschnittlich kreativ.
Ähnlichkeiten zwischen Hochbegabung und anderen neurodivergenten Merkmalen:
- Schnelle, aber manchmal sprunghafte Denkweise (ähnlich wie bei ADHS)
- Hohe Sensibilität gegenüber Umweltreizen (ähnlich wie bei Autismus oder Hochsensibilität)
- Soziale Herausforderungen durch andere Interessensschwerpunkte oder ein stark ausgeprägtes Bedürfnis nach Tiefe in Gesprächen
Trotz dieser Parallelen wird Hochbegabung in der Forschung meist getrennt von klassischen neurodivergenten Bedingungen betrachtet.
Daniela beginnt, sich intensiver mit dem Thema auseinanderzusetzen und stößt auf Online-Foren, in denen andere Hochbegabte über ihre Erfahrungen berichten. Zum ersten Mal fühlt sie sich nicht allein.
Typische Herausforderungen und Stärken hochbegabter neurodiverser Menschen
Nicht jeder Hochbegabte fühlt sich „anders“ – aber viele erleben Herausforderungen, die mit ihrer speziellen Denkweise zusammenhängen:
Häufige Herausforderungen:
- Reizüberflutung: Hochbegabte nehmen oft mehr Details wahr und verarbeiten Informationen intensiver, was schnell überfordernd sein kann.
- Soziale Schwierigkeiten: Manche Hochbegabte fühlen sich in Gesprächen unterfordert oder haben das Gefühl, nicht richtig dazuzugehören.
- Perfektionismus: Viele Hochbegabte setzen sich selbst unter enormen Druck und scheitern an ihren eigenen (oft unrealistischen) Ansprüchen.
Daniela erkennt sich in all dem wieder. Sie erinnert sich an unzählige Situationen, in denen sie dachte, sie sei einfach „zu empfindlich“ oder „zu anstrengend“. Jetzt weiß sie: Sie tickt einfach anders – und das ist okay.
Stärken und Chancen:
- Schnelles Lernen: Hochbegabte können sich neue Themen blitzschnell aneignen und haben oft einen breiten Wissensschatz.
- Kreatives Problemlösen: Sie denken vernetzt und finden innovative Lösungen, auf die andere nicht kommen.
- Starke intrinsische Motivation: Wenn ein Thema sie interessiert, können Hochbegabte eine außergewöhnliche Leidenschaft und Ausdauer entwickeln.
Fazit
Ist Hochbegabung also neurodivers? Offiziell nicht – aber in vielen Fällen überschneiden sich Merkmale von Hochbegabung und anderen neurodivergenten Bedingungen. Hochbegabte denken oft anders, verarbeiten Reize anders und haben andere Bedürfnisse als neurotypische Menschen. Ob sie sich als neurodivergent bezeichnen oder nicht, ist letztlich eine individuelle Entscheidung.
Für Daniela war es eine Erleichterung, zu verstehen, warum sie so fühlt, wie sie fühlt. Hochbegabung ist keine Störung, sondern eine Besonderheit, die ihre eigenen Herausforderungen und Stärken mit sich bringt. Wer seine Denkweise versteht, kann gezielt Wege finden, um mit den eigenen Eigenheiten umzugehen – und sie als Stärke zu nutzen. Und genau das hat Daniela vor.